medico international | Rundschreiben 1/2017
Ein Jahr EU-Türkei-Deal: Die Lage der Flüchtlinge in Athen und auf Lesbos zwischen Verzweiflung und Protest.
Von Ramona Lenz
Im Sommer 2004 waren die Fernsehkameras der Welt auf den Athener Stadtteil Elliniko gerichtet. Auf dem weitläufigen Gelände des einstigen Flughafens der griechischen Hauptstadt kämpfte die „Jugend der Welt” in eigens errichteten Stadien und Hallen des Elliniko Olympic Complex im Fechten, Hockey oder Kanufahren um Gold. Doch kaum war das olympische Feuer erloschen, begann das Areal zu zerfallen. Die Farbe bröckelt von den Wänden und das Unkraut wuchert zwischen den Betonplatten hervor. Es ist ein unwirtlicher Ort, mit dem die Stadtverwaltung nichts anzufangen wusste. Bis Ende 2015.
Seitdem sind hier Flüchtlinge untergebracht. Eigentlich sollte es nur vorrübergehend sein. Doch noch immer haben die Menschen ihre Zelte in der ehemaligen Ankunftshalle des Flughafens aufgeschlagen oder wohnen in denen des UNHCR auf dem Spielfeld des Hockeystadions.
M. lebt seit mehr als einem Jahr hier. „Inzwischen sind wir fast nur noch Afghanen“, erklärt er uns. „Wir bekommen kaum noch Asyl in Europa.“ Das Protokoll seines Smartphones zeigt eine lange Liste vergeblicher Anrufversuche bei der griechischen Asylbehörde. No answer, no answer, no answer. Wie viele andere erreicht M. niemanden, um einen Termin zu vereinbaren.
Angesichts der Perspektivlosigkeit hätten viele inzwischen Schlepper bezahlt, um weiterzukommen. Zurückgeblieben seien diejenigen, die sich das nicht leisten können. M. hat in Afghanistan für die internationalen Truppen der ISAF gearbeitet, auch für deutsche Kontingente. Nicht zuletzt deswegen wurde er 2013 von den Taliban bedroht. Nachdem sein Vater und sein Bruder bei einem Attentat schwer verletzt worden waren, entschloss er sich zur Flucht. Er suchte Schutz bei den Botschaften der Nationen, für die er gearbeitet hatte, und bat um Unterstützung. Doch niemand fühlt sich für ihn zuständig. Wie es jetzt weitergeht? „Wenn man mich abschiebt, bin ich tot. Das ist sicher.“
#18M – gegen den EU-Türkei-Deal
Die Ungewissheit, die Angst vor Abschiebung und die Zustände im Lager setzen den Menschen zu. Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen. Doch die Flüchtlinge organisieren auch Proteste gegen ihre Unterbringung, gegen das schlechte Essen und die Bestrebungen, sie in Lager weit außerhalb von Athen zu verlegen. „Dort würde man uns vollkommen vergessen“, meint M. Deswegen hat er in verschiedenen Lagern in Athen für den Protesttag am 18. März 2017 mobilisiert. In mehreren griechischen Städten gingen Tausende Flüchtlinge und Solidaritätsgruppen auf die Straße, um für die Rechte der Flüchtlinge zu protestieren.
Das Datum war bewusst gewählt: An diesem Tag jährte sich das Abkommen der EU mit der Türkei. Kurz vor seinem Inkrafttreten war entlang der Balkanroute eine Grenze nach der anderen offiziell geschlossen worden. Der Deal sorgte dafür, dass kaum noch Flüchtlinge aus der Türkei nachkamen und diejenigen, die nach dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln strandeten, dort bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens bleiben müssen. Von heute auf morgen waren sie einem anderen Recht unterworfen. Von der Türkei bis Serbien sitzen Flüchtlinge seither unter desolaten Bedingungen fest.
Viel Geld, wenig Nutzen
Zentraler Ort der Organisation von #18M war das City Plaza Hotel im Zentrum von Athen. Seit fast einem Jahr beherbergt das besetzte Gebäude, das zuvor jahrelang leer gestanden hatte, rund 400 Flüchtlinge. Den hier Gestrandeten bietet es eine würdevolle Unterbringung, frisches Essen und eine gute Gesundheitsversorgung. Hier können sie den Alltag gemeinsam mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern aktiv gestalten. Seit der brutalen Räumung dreier für Flüchtlinge besetzter Häuser in Athen vor wenigen Wochen fürchten sie jedoch um den Erhalt der Unterkunft. Lange hat die Regierung das Projekt toleriert, weil sie selbst mit der Unterbringung der Flüchtlinge überfordert war. Doch da sich die offiziellen Lager leeren, weil weniger Flüchtlinge ankommen, manche über Relocation, Familienzusammenführung oder illegal in ein anderes Land weitergezogen sind bzw. abgeschoben wurden, steigt die Gefahr, dass auch das Hotel geräumt wird.
In den vergangenen Monaten sind rund die Hälfte der 60.000 Flüchtlinge in Griechenland in Privatwohnungen, Hotels und akzeptable Aufnahmezentren verlegt worden. Die andere Hälfte aber lebt weiterhin in offiziellen Massenlagern. Es sind Aufbewahrungsstätten mit Minimalversorgung. Flüchtlinge wie auch die nach wie vor zahlreichen Freiwilligen, die sie unterstützen, zucken mit den Schultern, wenn man sie fragt, wo die vielen Millionen Euro geblieben sind, die die EU angeblich der griechischen Regierung, dem UNHCR und großen Nichtregierungsorganisationen für die Verbesserung der Unterbringung und der Asylverfahren der Flüchtlinge zur Verfügung gestellt hat. Der Einsatz in Griechenland soll der teuerste in der Geschichte des Europäischen Amtes für humanitäre Hilfe (ECHO) gewesen sein.
Einige Mitglieder der syrischen medico-Partnerorganisation Jafra Foundation, die sich irgendwann selbst zur Flucht entschlossen, wollten nicht länger tatenlos zuschauen, wie die Menschen in den Lagern nach und nach zugrunde gehen. Deshalb sind sie selbst aktiv geworden: Zunächst in Idomeni an der Grenze zu Mazedonien und dann in einem Lager in der Nähe von Thessaloniki boten sie Aktivitäten für Kinder an, organisierten Schulunterricht und sorgten für die Vernetzung unter den Flüchtlingen. medico und Moving Europe stellten ihnen hierfür ein Auto zur Verfügung.
Bei unserem Besuch erzählen sie, dass sie momentan versuchen, sich als NGO registrieren zu lassen – „Jafra Greece – Refugees to Refugees“. Im Athener Stadtteil Exarchia haben sie vor kurzem eine Unterkunft für Frauen und Kinder eröffnet. Momentan leben Menschen aus Afghanistan, Algerien, Irak und Syrien in dem schön hergerichteten Haus. „Wir haben alles selbst gemacht“, erklärt Housam Jackl von Jafra stolz. „Drei Flüchtlinge haben die Wände gestrichen, drei andere haben sich um die Elektrizität gekümmert und wieder drei andere um die Möbel. Die Menschen wollen etwas tun.“
Inseln als Freiluftgefängnisse
Auf den griechischen Inseln, die von der EU zu „Hotspots“ erklärt wurden, sitzen aktuell rund 15.000 Menschen fest. In den hiesigen Lagern sind die Verhältnisse oft noch desolater als auf dem Festland. Keines war darauf ausgelegt, Menschen über einen so langen Zeitraum zu beherbergen. Als eines der schlimmsten Camps gilt Moria auf Lesbos. Mehrfach mit Stacheldraht abgesichert, warten Menschen seit nun einem Jahr darauf zu erfahren, wie es mit ihnen weitergeht.
Im bitterkalten Winter erfroren mehrere Flüchtlinge, andere starben bei dem Versuch, sich mit Gaskochern warm zu halten. Journalisten und andere Beobachter sind nicht erwünscht. Auf der Straße vor dem Eingang stehen junge Männer, viele kommen aus Afrika. Wer Geld hat, besorgt sich gefälschte Papiere, um mit einer Fähre aufs Festland zu gelangen. Um die 1.000 Euro muss man dafür bezahlen.
Vorgeblich soll das EU-Türkei-Abkommen auch dem Schutz der Flüchtlinge dienen. Illegale Einreisen von der Türkei nach Griechenland sollten durch legale ersetzt und die Asylverfahren insbesondere in den „Hotspots“ beschleunigt werden. Diejenigen, die Anspruch auf Schutz in Europa haben, sollten zügig auf andere EU-Länder verteilt werden. Doch von all dem ist wenig geblieben. Nach wie vor ist nur ein Bruchteil der 160.000 Menschen aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten verlegt worden. Stattdessen sind seit dem 15. März 2017 sogar wieder Dublin-Abschiebungen aus anderen EU-Ländern nach Griechenland möglich, sofern Flüchtlinge dort zuerst europäischen Boden betreten haben. Immerhin stocken die Abschiebungen aus Griechenland in die Türkei dank der Klagen von Anwältinnen von Refugee Support Aegean (RSA), deren Arbeit medico gemeinsam mit Pro Asyl unterstützt. Griechische Gerichte bestätigten, dass die Türkei kein sicheres Land für Flüchtlinge ist.
(Ohn-) Macht der Solidarität
Doch auch auf den Inseln gibt es solidarische Strukturen. Die Freiwilligen von No Border Kitchen Lesbos etwa versorgen Flüchtlinge, deren Papiere abgelaufen sind und die in besetzten Häusern auf Lesbos leben, jeden Tag mit frischem Essen. Und die Initiative „Welcome 2 Europe“ verteilt mit medico-Unterstützung Broschüren, die wichtige Informationen und Adressen enthalten, in vier verschiedenen Sprachen an Neuankömmlinge. Dass auch Lager menschenwürdiger sein können, beweist das Aufnahmezentrum Pikpa in der Nähe des Flughafens von Mytilini. Als vor einigen Jahren immer mehr Menschen an den Stränden von Lesbos ankamen, beschlossen Aktivistinnen und Aktivisten, sie in dem ehemaligen Feriendorf unterzubringen. Später führten sie Gespräche mit der Stadtverwaltung.
Inzwischen wird das Lager mit wenigen Festangestellten und vielen lokalen und internationalen Ehrenamtlichen von Lesvos Solidarity betrieben. Aufgenommen werden hier besonders verwundbare Flüchtlinge – Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, chronisch krank oder schwanger sind, eine Behinderung haben oder ein Schiffsunglück überlebt haben. In Pikpa gibt es liebevoll eingerichtete Holzhütten, einen Kindergarten, einen Waldspielplatz, einen Gemüsegarten, eine große Küche, in der die Flüchtlinge drei Mal in der Woche selbst kochen können, und eine Altkleiderausgabe, die wie eine Boutique eingerichtet ist.
Genauso wie den Aktivistinnen und Aktivisten vom City Plaza ist es auch Lesvos Solidarity gelungen, Flüchtlingskinder auf die staatliche Schule zu schicken. Dieses Engagement macht einen Unterschied – eine langfristige Perspektive kann es den Menschen allerdings nicht vermitteln. Auch in Pikpa sitzen die Menschen seit vielen Monaten fest und warten mit zunehmender Verzweiflung auf eine Entscheidung, wie es für sie weitergehen wird. „Depressionen und Suizidversuche haben stark zugenommen“, berichtet eine Krankenschwester von Lesvos Solidarity.
„Die Ankunft in Griechenland war die Hölle“, erzählt R. aus Damaskus, ein Mann, der in Syrien mehrere Monate im Gefängnis gesessen hat. Seit Sommer 2016 ist er mit seiner Frau und ihren beiden Kindern auf Lesbos. „Wir kamen zunächst in das Lager Kara Tepe und mussten wie Tiere in Zelten leben.“ In Pikpa sei die Situation viel besser. Dennoch ist seine Hoffnung fast erloschen. „Meine Tochter fragt mich jeden Tag, wann wir wieder ein normales Leben führen. Ich reiße mich zusammen, weil ich nicht will, dass sie dieselben psychischen Probleme bekommt wie ich.“
Wenn er gewusst hätte, was das EU-Türkei-Abkommen für ihn und seine Familie bedeutet, wäre er in ein arabisches Land gegangen und nicht nach Griechenland, sagt R. unter Tränen. In jeder Hütte erzählen die Menschen ähnliche Geschichten, von erlebter Gewalt, den Strapazen der Flucht und einer wachsenden Perspektivlosigkeit. Die Tage vergehen und zermürben. Es gibt kein vorwärts, aber die Drohung eines zurück. Man kommt nicht umhin, die abschreckende Wirkung zu erkennen und genau darin die eigentliche Agenda der europäischen Asylpolitik zu sehen.