Bericht von der ersten Woche
Von Marc Speer
Ende Oktober 2015 in Spielfeld an der slowenisch/österreichischen Grenze: Es ist eine Warnweste, die den Zugang zum Camp ermöglicht. Überall auf der Balkanroute laufen Freiwillige in Warnwesten durch die Gegend. Auch wir haben sie an. Erst eine billige, wie man sie nicht nur in Österreich standardmäßig im Auto mitführen muss, und daher an jeder Tankstelle für gerade mal einen Euro bekommt. Kurze Zeit später wechseln wir unser selbst mitgebrachtes Billig-Exemplar gegen eine offizielle Warnweste von „Österreich hilft“. Das erfordert nicht sonderlich viel. Man muss lediglich im Container des Roten Kreuzes ein Formular ausfüllen und schon ist man offiziell anerkannter humanitärer Helfer und wird von den österreichischen Soldaten mit einem freundlichen und ernst gemeinten „Servus“ begrüßt.
Und auf einmal ist man mittendrin und ganz schnell weg vom Warnwesten-Zynismus: In einem kleinen Tal zwischen Slowenien und Österreich, in welchem auf beiden Seiten der Grenze nur wenige Tage zuvor jeweils ein Camp aufgebaut wurde. Dazwischen ein Korridor, eine Art „Niemandsland“. Dazu später mehr.
Kurz vor unserer Ankunft hätte es am Übergang aus dem Korridor hinein in das österreichische Camp beinahe eine Katastrophe gegeben. Das unbeholfene Geplärre des österreichischen Militärs („stop it, stop it all, listen to me…“) hat diese sicherlich nicht verhindert. Eher der reine Zufall, wie in dem folgenden Video unschwer zu erkennen ist. Es wirft zudem die Frage auf, warum das österreichische Militär bzw. die Polizei angesichts der angespannten Lage den Zugang nicht komplett geöffnet haben.
Als wir die Grenze erreichen, wirkt die Situation deutlich entspannter als in dem Video zu sehen, wenn auch nicht weniger entwürdigend. Im österreichischen Camp werden die Menschen nun in diversen aneinander gereihten Gitterkäfigen zu jeweils einer Busladung zusammengepfercht („Hinsetzten!“). Wie Stückvieh für den Weitertransport. Aber nicht alle müssen sich diesem Prozedere unterwerfen. Denn im Lager gibt es eine Zweiklassengesellschaft. Wer Geld hat, kommt ziemlich schnell – und an den Gitterkäfigen vorbei – weiter: 410 Euro mit dem Taxi nach Wien, 550 Euro mit dem Taxi bis nach Salzburg. Fixpreis und natürlich gegen Vorkasse. Ich habe selber mal in einem ähnlichen Gewerbe gearbeitet. Auch wenn das der „normale“ Fahrpreis sein mag, so eine Fahrt ist ein Joker, den man normalerweise nicht öfter als ein paar Mal im Jahr zieht. Und dann gleich wieder zurück und nochmal fahren bedeutet, ganz legal, locker 1.000 Euro Umsatz an nur einem Tag. Allerdings wurde der Taxiverkehr kurze Zeit später von den Behörden wieder unterbunden – warum auch immer.
Die Allermeisten können sich eine Taxifahrt allerdings sowieso nicht (mehr) leisten und dürfen sich, bevor es in die Gitterkäfige geht, erst einmal in einem unbeheizten Zelt wie diesem „ausruhen“. Und dies bei Temperaturen unter Null in der Nacht.
Nachdem uns bereits die Situation im Camp in Spielfeld als unakzeptabel erschien, wurde uns nur wenig später klar, dass es sogar noch schlimmer geht. Denn zwischen dem Camp in Spielfeld und jenem auf der slowenischen Seite befindet sich ein Korridor („Niemandsland“), für den wohl nur das Wort „apokalyptisch“ zutreffend ist. Ein äußert kooperativer slowenischer Soldat erlaubte uns ohne größere Diskussionen den Korridor zu betreten, nachdem wir ihm unsere mitgebrachten Rettungsdecken zeigten und erklärten, diese verteilen zu wollen. Dass hierfür dringender Bedarf bestand, war wohl auch ihm klar. Dies galt allerdings nicht für die österreichischen (Militär-)Polizisten, die – wir hatten sie aufgrund der dramatischen Szenerie um uns herum nicht kommen sehen – auf einmal neben uns standen. Auf ziemlich unfreundliche Art und Weise wurden wir von diesen über den österreichischen Zugang wieder hinaus eskortiert. Im Flutlicht vorbei an den Wartenden, die wohl nichts lieber getan hätten, als uns einfach zu folgen. Warum die österreichische Polizei ein Problem mit der Verteilung von Rettungsdecken an frierende Menschen hat, bleibt uns unerklärlich. Wenig später haben wir unsere Rettungsdecken dann einfach über den Zaun gereicht und sind dabei mit einem syrischen Familienvater ins Gespräch gekommen, der uns seine missliche Lage erläuterte: Mit seinem Baby, das kurz zuvor noch in einem Krankenhaus behandelt worden war, konnte er es einerseits nicht riskieren, sich über Stunden hinweg nach vorne durchzudrängeln, andererseits war ihm auch der Weg zurück in die beheizten slowenischen Zelte versperrt. Denn wer einmal im Korridor ist, darf nicht mehr zurück. Paradoxerweise sind es also gerade jene Personen, die besonders verletzlich sind, die besonders lange und ohne jegliche Unterstützung vor dem Eingang zum österreichischen Camp frieren müssen.
Das slowenische Camp erreichen die Flüchtenden über einen eigens angelegten Bahnhof in Šentilj, der nur wenige Hundert Meter entfernt liegt. Von dort aus laufen sie dann unter Polizeibewachung in einer langen Kolonne in das Lager.
Die vier bis fünf Züge täglich starten aus Dobova an der kroatisch-slowenischen Grenze, jeweils mit etwa 1.000 Passagieren. Direkt am Bahnhof in Dobova findet auch die Registrierung statt. Nur in dem Fall, dass die dortigen Kapazitäten überlastet sind, werden die Reisenden mit Bussen für einige Stunden in ein nahe dem Bahnhof gelegenes Camp gebracht. Dabei ist allerdings anzumerken, dass laut einer glaubhaften Quelle vor Ort nicht immer auch eine Registrierung mit Fingerabdrücken stattfindet: Manchmal werden nur Fotos gemacht, manchmal wird nur der Name in eine Liste eingetragen und falls die Registrierungskapazitäten gänzlich ausgelastet sind, kann es auch mal vorkommen, dass überhaupt keine Daten erfasst werden. Im Vergleich zu den anderen Camps wirkte die Situation in Dobova – zumindest während unseres Besuchs am 4.11.2015 – ziemlich organisiert und entspannt.
Einen Tag vor unserem Besuch in Dobova wurde in Kroatien das neue Camp in Slavonski Brod „eröffnet“, das nun das bisherige, spontan aufgebaute Camp in Opatovac ersetzt. Letzteres bleibt zwar erhalten, soll allerdings nur noch dann genutzt werden, wenn die Kapazitäten in Slavonski Brod erschöpft sind. Das Camp liegt am Rande der Stadt in einem Industriegebiet auf einem Areal, das aus Sicht der Behörden wohl vor allem den Vorteil hat, dass es über einen eigenen Gleisanschluss verfügt. Dieser ist auf diesem Bild zu erkennen (die „gebogene Linie“ in der Mitte) :
Nahezu alles in diesem Camp ist auf Effizienz (d.h. den möglichst schnellen Weitertransport) getrimmt: Der Zug fährt ein, die Passagiere verlassen ihn linker Hand und werden dann zunächst durch eine der fünf Registrierungsstraßen geschleust (die kleinen Zelte in der Bildmitte), wo anscheinend auch Fingerabdrücke abgenommen werden. Danach werden die Passagiere in Gruppen von ca. 50 Personen in eines der sechs vorhandenen Module gebracht (die rot umrandeten Rechtecke). Jeweils ein kompletter Zug in eines der Module. Aus Sicht der Behörden hat das wohl den Vorteil, dass immer ein ganzes Modul in einen abreisenden Zug gebracht werden kann, also alle die zeitgleich ankommen auch zeitgleich wieder abreisen. Auch dies geschieht wiederum in kleineren Gruppen („Familien zuerst“), wobei die kroatischen Polizisten zum Teil durchaus ruppig agieren und zum schnellen Besteigen des Zuges drängen. NGOs und sonstige zwischenstaatliche Akteure können sich auf dem Gelände frei bewegen, allerdings werden die Namen der „Besucher“ am Eingang kontrolliert und es muss eine Sicherheitsschleuse wie am Flughafen passiert werden. Für nichtstaatliche bzw. zwischenstaatliche Organisationen gibt es auf dem Gelände sogar einen eigenen Bereich, im dem etwa zehn Container als Büros und „Pausenräume“ dienen. Neben diversen NGOs ist etwa auch UNICEF, die IOM und das Rote Kreuz vertreten. In der Mitte des Camps steht zudem ein riesiger Video Screen, auf dem mit einem IOM-Logo versehene Texte auf Arabisch zu sehen sind.
Was bedeutet all dies nun für die so genannte Balkanroute und die im Entstehen begriffene Strategie der Europäischen Union? Vor rund zwei Wochen fand ein Mini Summit in Brüssel statt, auf dem ein 17-Punkte-Plan für den Balkan beschlossen wurde. Auch wenn es in den Tagen nach dem Gipfel nicht so aussah, lässt sich zumindest festhalten, dass ein Ziel erreicht wurde: Alle Beteiligten, von Griechenland bis Österreich, nehmen nun den Westbalkan als geteilten Raum der Migration war, in dem nationale Alleingänge (also Grenzschließungen) keine Lösung darstellen. Doch die Punkte 8 bis 12 („Managing the migration flows together“), die ja vor allem darauf abzielten, die Bewegung der Migration über den Balkan zu verlangsamen, zu kategorisieren, gleichsam einzufrieren und sie dann in das Europäische Asylsystem (was auch immer das gerade ist) zu leiten, wird von allen beteiligten Regierungen, ob nun EU-Mitglied oder nicht, ganz anders verstanden. „Managing the migration flows together“ ist hier (endlich) einmal nicht als Euphemismus zu verstehen, hinter dem letztendlich doch immer Internierung und Abschottung stand. Heute auf dem Balkan bedeutet das zwar eine Kanalisierung, aber die Bewegung der Migration wird nicht aufgehalten, nur ein bisschen verzögert und ansonsten unterstützt. Zugleich lässt sich allerdings auch eine zunehmende Institutionalisierung und Kontrolle ausmachen. Was dies für den anvisierten Neustart des Europäischen Asylsystems bedeutet, bleibt vorläufig unklar.