Idomeni – Gevgelija

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Sommer der Migrationen – Teil 2

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„Sie schleppen sich auf verschlungenen Wegen über die Berge des Balkans, sie hoffen auf ein neu­es Leben in Westeuropa. Unterwegs mit Flüchtlingsfamilien.
Flüchtlinge aus Afrika und den Krisengebieten im Nahen Osten versuchen auf vielen Wegen, nach Europa zu kommen. Eine Route führt 250 Kilometer durch die Berge von Griechenland, Mazedo­nien und Serbien – ein Gewaltmarsch. Die tagelange Wanderung ist kraftraubend, aber auch voller Enttäuschungen und Gefahren.
Viele Flüchtlinge scheitern, dennoch entscheiden sich nach Informationen der EU-Grenzschutz­agentur Frontex immer mehr für diesen Weg. Im Jahr 2014 registrierten sie 43.000 Menschen, die auf dieser Route unterwegs waren – doppelt so viele wie im Jahr davor. Allein in den ersten zwei Monaten dieses Jahres kamen so schon 22.000 Flüchtlinge nach Ungarn.“1

Reporter der Presseagentur AP hatten 45 Flüchtlinge aus Westafrika zehn Tage und Nächte auf ih­rer Reise begleitet.

„Ende Februar startete die Gruppe in Thessaloniki im Norden Griechenlands. Die Bilder zeigen ihren Weg voller Schmerz und Qualen. Für fast alle endet er mit einer Niederlage: Die meisten werden von Grenzpolizisten aufgegriffen.“

Eine der ersten und eindrucksvollsten Reportagen von der Balkanroute stammt von Toon Lam­brechts der in mehreren Folgen im belgischen Magazin Mondiaal Nieuws über das Schicksal von Migrantinnen auf der Route berichtet hat, aufrüttelnd und mit guten Bildern.2

Abb.03

Im Juni waren es bereits zwischen 100 und 200 junge Männer täglich, die durch das griechische Grenzdorf Idoméni wanderten und versuchten, über die Grenze nach Mazedonien zu gelangen.

„Aber hier brauchst Du wieder Schlepper“, sagt ein Flüchtling, „damit Du von Griechenland rüber nach Mazedonien kommst – ohne Schlepper hast Du keine Chance.“
„Jede Nacht gehen wir an die Grenze und versuchen, rüber zu kommen, aber die Polizei erwischt uns. Die Polizei hatte mich verhaftet und dann gesagt: Geh! Geh weg von hier!,“ sagt Imal, ein junger Mann aus Afghanistan. Er will es trotzdem wieder versuchen, irgendwann nachts uner­kannt über die Grenze nach Mazedonien zu kommen.
Der kleine Wald gleich hinter dem Dorf zieht sich hinüber bis ins Nachbarland Mazedonien. In diesem Wald harren die Flüchtlinge aus, bis es dunkel wird, wollen dann rüber über die Grenze.
„Nachts frieren wir. Wir haben keine Decken, wir haben so viele Probleme“, sagt Moez, ein Flüchtling aus Afghanistan. Die Grenzpolizei gab Warnschüsse ab und trieb die Migrantinnen zu­rück über die Grenze.3

In Mazedonien ging es zu Fuß entlang der Bahnschienen – oder mit Fahrrad oder Taxi – weiter bis an die Grenze nach Serbien. Auf der Strecke kam es zu einer Reihe tödlicher Unfälle.

Dass das Katz- und Maus-Spiel an der griechisch-mazedonischen Grenze und die Präsenz einiger Räuber- und Schlepperbanden, die versuchten, aus der Schutzlosigkeit der Migrantinnen Profit zu schlagen, nach dem 18. Juni ein Ende fand, war allein dem Gesetz der großen Zahl zu verdanken. Die Regierung verfügte, parallel zum Vorgehen in Serbien, dass den Migrantinnen Aufenthaltstitel für die Durchreise auszustellen waren. Die Zahl der Migrantinnen stieg indes bis zum Juli auf zwei­tausend täglich. Die Grenzpolizisten wurden buchstäblich an die Seite gedrängt, für einige Tage be­völkerten Tausende die mazedonischen Schienen und Straßen.

„Die ohnehin wenigen mazedonischen Polizisten hatten jeden Versuch aufgegeben, die anstür­menden Massen zu kontrollieren oder wenigstens in geordnete Bahnen zu lenken“, so eine serbi­sche Zeitung. „Eigentlich muss sich jeder Flüchtling registrieren lassen. Die Migranten erhalten dann eine Durchreisebewilligung, die für 72 Stunden gültig ist. Doch ebenso wie im ‚Aufnahme­zentrum‘ im südserbischen Presevo warten die meisten Asylbewerber auf ihrem Weg nach West­europa und vor allem nach Deutschland nicht darauf und reisen ohne Papiere weiter.“4

Hilfe für die Migrantinnen leisteten in erster Linie Freiwillige, die sich über Facebook organisiert hatten und die in Gevgelija sowie auf dem Grenzbahnhof Tabanovce bei der Ausreise nach Serbien Lunchpakete verteilten. Drei Züge täglich mit einer Kapazität von 450 Plätzen wurden zur Verfü­gung gestellt. Bilder vom ‚Expresszug der Verzweifelten‘ von Gevgelija nach Tabanovce hat Die Zeit in einer Fotoserie festgehalten.5 Bis Mitte August spielte sich an der Grenze zwischen Idoméni und Gevgelija ein gewisses Miteinander der Migrantinnen, der mazedonischen Grenzpolizei und der helfenden Volunteers ein und die Schlagzeilen kamen von anderen Orten.

Mazedonien ist ein kleines und armes Land, politisch instabil, von den Nachbarn Griechenland und Serbien beständig gegängelt, mit 2 Millionen Einwohnern und mehr als 30% Arbeitslosigkeit. Die Außenpolitik bewegt sich zwischen Opportunismus und Angst. Mazedonien ist noch weniger als Bulgarien ein Land, in dem die Migrantinnen länger bleiben können oder wollen. Diese Fakto­ren müssen in Betracht gezogen werden, wenn es darum geht, die Ereignisse vom 20. August zu re­flektieren. Wahrscheinlich handelte es sich um Reflexe vorauseilenden Gehorsams seitens der rechtsnationalen Regierung und die Angst vor Stockungen im Vorfeld der ungarischen Grenz­schließungen. Zudem waren auf den griechischen Inseln allein im Juli 50 000 Migrantinnen einge­troffen, deren Passage binnen weniger Tage zu erwarten war.

An jenem 20. August verkündete die mazedonische Regierung den Ausnahmezustand und erklärte, der „verstärkte Druck“ auf die südliche Landesgrenze mache dies erforderlich. Es wurde versucht, den Zug der Flüchtigen abrupt zu stoppen. Man habe den Ausnahmezustand ausgerufen, um zu­sätzliche Soldaten entsenden zu können.

Seit der gestrigen mazedonischen Grenzschließung haben sich Tausende Flüchtlinge im Nie­mandsland zwischen Griechenland und Mazedonien angesammelt. Heute morgen schießt die ma­zedonische Polizei mit Tränengas auf sie. Laut Standard soll „in der Gemeinde Gevgelija in der Nacht auf Freitag die Lage eskaliert und ein Sonderpolizist von einem Migranten erstochen wor­den sein. Weitere Details zu diesem Fall waren zunächst nicht bekannt. Am Freitagvormittag ver­öffentlichte die Nachrichtenagentur AP Fotos, auf denen zu sehen ist, wie Steine Richtung Polizei fliegen und auf der anderen Seite verletzte Flüchtlinge versorgt werden“.6

Die Schließung der Grenze konnte nur drei Tage lang aufrecht erhalten werden. Der Druck auf die Absperrungen wurde zu groß, und der Gebrauch von Schusswaffen hätte unabsehbare Folgen ge­habt. Die NZZ schrieb:

„Chaotische Szenen

Darauf kam es in der Nähe des Grenzortes Gevgelija zu chaotischen Szenen. Flüchtlingsgruppen, die bis zu drei Tage ohne nennenswerte Versorgung im Grenzstreifen ausgeharrt hatten, ver­suchten Polizeikordons zu durchbrechen. Die Polizei setzte Tränengas ein und feuerte Blendgra­naten in die Menge. Lokale Medien berichteten von Verletzten. Etliche der Flüchtlinge seien dehy­driert gewesen. Später setzte heftiger Regen ein. Nach mazedonischen Angaben kommen die meisten Flüchtlinge aus Syrien, es folgen Afghanistan und der Irak als Herkunftsländer. Im Ver­lauf des Wochenendes lockerte die Polizei die Sperren und ließ Flüchtlinge in Zügen zur serbi­schen Grenze fahren. Mazedonien ist so wenig wie Serbien das Zielland dieser Menschen. Beides sind nur Transitländer, die sie so schnell wie möglich durchqueren wollen. Anders als Serbien, das schnell eine minimale Infrastruktur auf die Beine stellte, reagiert der mazedonische Staat le­thargisch auf die Notlage. Erst jetzt haben die Behörden begonnen, bei Gevgelija ein Empfangs­zentrum zu bauen.“7

Der Plan der Regierung, in einer Art offen ausgetragener Feldschlacht die Kontrolle über die Grenze zurückzugewinnen, scheiterte kläglich, und der 23. August markiert einen der großen Durchbrüche auf der Balkanroute. Der Guardian beschreibt die Szene des Durchbruchs:

„Migrants overwhelm security forces at Macedonia border

Riot police remain but fail to slow passage of migrants crossing from Greece on way through Balkans to western Europe
Hundreds of migrants have crossed unhindered from Greece into Macedonia after overwhelmed security forces appeared to abandon a bid to stem their flow through the Balkans to western Eu­rope following days of chaos and confrontation.
Riot police remained, but did little to slow the passage of a steady flow of migrants on Sunday, many of them refugees from the Syrian war and other conflicts in the Middle East, a Reuters re­porter at the scene said.
Macedonia declared a state of emergency on Thursday and sealed its southern frontier to mi­grants arriving at a rate of 2,000 a day en route to Serbia then Hungary and the EU’s borderless Schengen zone. This led to desperate scenes at the border, as adults and children slept under open skies with little access to food or water.
Saying they would ration access, riot police used teargas and stun grenades to drive back crowds, but they were overwhelmed on Saturday by several thousand people who tore through police lines or ran through nearby fields.
The state eventually laid on extra trains, and buses arrived from across the country to take the migrants swiftly north to Serbia on the next step of their journey.“8

Der Durchbruch war getragen von der festen Entschlossenheit der Migrantinnen, wurde aber auch möglich, weil die mazedonische Grenzpolizei unter den Augen der Weltpresse nicht über Tage hin­weg auf Familien einprügeln konnte. Griechenland, das ja selbst am Export des sozialen Spreng­stoffs interessiert war, trug seinen Teil bei, indem die Menschen tagtäglich in einer Kette von Bus­sen direkt an die Grenze des ungeliebten Nachbarn transportiert wurden. Ein weiterer Faktor, der die mazedonische Regierung zur Rücknahme der Grenzschließung bewegte, war die vergleichswei­se offene Politik der serbischen Regierung. Der oben zitierte NZZ-Bericht fährt fort:

„Während in Mazedonien die Flüchtlinge mit Tränengas empfangen wurden, begab sich in Serbi­en der Verteidigungsminister nach Presevo und gab den Bau eines weiteren Lagers bekannt. In einer Werbeaktion in eigener Sache trug er vor laufenden Kameras dem kleinen syrischen Kna­ben Ahmed den Rucksack. Das mag Politkitsch sein, trägt aber dazu bei, dass in Serbien die Ein­stellung der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen weiterhin vergleichsweise positiv ist. Die Hilfsbereitschaft in Teilen der Bevölkerung ist bemerkenswert. Es sind vor allem spontan gebil­dete Bürgergruppen – und weniger die auf Spenden wartende NGO –, die den Flüchtlingen in den Parks von Belgrad Esswaren und Kleider bringen und Spiele mit den Kindern veranstalten. «Die Leute sind erschöpft, aber sie wissen, dass das Schlimmste vorbei ist – es fehlen nur noch ein paar hundert Kilometer», sagt Gordan Paunovic, ein Aktivist, der seit Monaten private Hilfsak­tionen organisiert. Paunovic befürwortet eine Beschleunigung der Durchreise der Flüchtlinge durch Mazedonien und Serbien. Die beiden Länder sollten zusammenarbeiten und die aus dem EU-Staat Griechenland kommenden Flüchtlinge direkt bis zur ungarischen EU-Grenze transpor­tieren. Das wird sich kaum realisieren lassen, denn Serbien und Mazedonien sind EU-Kandida­ten-Länder und wollen es mit Brüssel nicht verderben.“

Die mazedonische Regierung hatte fortan die Wahl: dem Beispiel Ungarns folgen und einen massi­ven Zaun errichten oder aber den Transit durch das eigene Territorium weiterhin zu tolerieren bzw. diesen sogar noch reibungsloser zu gestalten. Man entschied sich für Letzteres und wurde da­mit gewissermaßen zum Trendsetter für eine Reihe weiterer Staaten auf der Balkanroute.9

Die acht Wochen vom 23. August bis zum 20. November waren in Gevgelija Wochen einer beschleu­nigten Routine. Tausende wurden täglich in die Durchgangslager geführt, in die Züge gestopft und weiter nach Serbien durchgereicht. Ein Bericht, der auf bordermonitoring erschienen ist, be­schreibt die Situation:

„Following the border closing and the subsequent border opening in the Republic of Macedonia in August, the fight-wing goverment declared a state of emergency. A new camp was built in Gevge­lija (southern Macedonia), far from the city so as to prevent any interaction beween the locals and refugees. Ever since, the reufgees can only be seen on 2 locations in Macedonia:

  • refugee point A (camp in Gevgelija, southern Macedonia)
  • refugee point B (camp in Tabanovce, northern Macedonia)

Of course these camps are not really camps but just transit tents and pitiful IKEA structures. There are zero accommodation facilities. There are stones, mud, a lot of barefoot children slee­ping on the ground. And unspeakable shame. But also, a lot of strength and resistance, both by refugees and volunteers.
The Gevgelja camp has ever since been fenced and the freedom of movement of refugees has been restricted. This is a violation of the refugee legislation in Macedonia, whereby obtaining the re­gistration documents allows you to freely travel in the country for 3 days. In practice, what is happening is that:
1) refugees cross the Greek-Macedonian border and reach the Gevgelija camp within 10 minutes
2) they are pushed onto trains (no freedom of choice, they must take the train, as the railway system is state-owned, bus companies are private. On rare occasions, in times of railway station technical issues, the refugees are allowed to take buses. Nota bene: Only the carefully selected bu­ses, so that the government can get a percentage out of it).
Once they get on the refugee trains, the train doors are LOCKED so as to prevent the refugees from exiting the train anywhere else and pushed onto Serbia. These are special refugee trains. We, as activists have taken them, in solidarity with our refugee brothers and sisters and were unable to get off until the Serbian border.
Once the trains reach Tabanovce, the refugees find yet another desolate place, a far-flung village where volunteers tirelessly wait. Volunteers and civilians in the Gevgelija camp have been facing numerous restrictions since August, one needs to be a member of an NGO to be able to enter the camp and have a special CMC badge (crisis management centre), The camp is fenced and severely militarised – the army, the border police and the special police force of Macedonia are tirelessly patrolling to protect us from the myriads of “terrorists“ flocking into the country.On the other hand, the Tabanovce camp has been much more relaxed, until 2 weeks ago when it was fenced. However, volunteers are still free to move there in practice. It is a bit risky especialy for foreign volunteers, as they need a volunteering visa, but many are taking the risk and nothing has happened to them until now. There are serious plans to make Tabanovce as strictly controlled as the Gevgelija camp perhaps by the end of this week.“10

Der mazedonische Anschlag auf das Right to Move vom 20. August wurde abgewehrt und über­wunden. War es auch die Rache des mazedonischen Grenzschutzes, dass dieses Land sich seit dem 20. November dafür hergibt, die Interessen der EU-Politik in einem zweiten Anlauf umzusetzen und vor der Grenze neues Elend und einen neuen Aufstand provozieren, indem es die Migrantin­nen nach nationaler Zugehörigkeit selektiert?


[1] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-marschieren-ueber-balkan-route-nach-europa-a-1025740.html#ref=rss
Zahlen sind aufgrund der hohen Zahl nicht registrierter Migrationen jedenfalls im ersten Halbjahr 2015 nur Schätzungen. Ein stetig aktualisiertes Zahlenwerk über die Westbalkanroute findet sich bei UNHCR:
data.unhcr.org/mediterranean/countra.php?id=502
[2] http://www.mo.be/en/report/moreporter-undercover-human-trafficking-macedonia
[3] http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-griechenland-ohne-schlepper-hast-du-keine.795.de.html?dram:article_id=322641
[4] http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtling-auf-der-balkanroute-mazedonien-kapituliert-vor-fluechtlingsansturm-1.2609347
[5] http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-08/fluechtlinge-mazedonien-zug-fs
[6] http://ffm-online.org/2015/08/21/mazedonien-polizei-schiesst-mit-traenengas-auf-fluechtlinge/, http://www.repubblica.it/esteri/2015/08/21/news/immigrati_polizia_macedone_usa_lacrimogeni_a_confine_grecia-121333322/
[7] http://ffm-online.org/2015/08/24/der-ansturm-ist-nicht-aufzuhalten/
[8] http://www.theguardian.com/world/2015/aug/23/migrants-macedonia-border-greece
[9] Dieser Text ist das Produkt gemeinsamer Arbeit von Personen, die an moving-europe.org beteiligt sind. Passagen aus dem Paper von Marc Speer, Sommer der Migration, publiziert in Hinterland: http://www.hinterland-magazin.de/, werden ohne besondere Kennzeichnung übernom­men.
[10] http://balkanroute.bordermonitoring.eu/2015/10/30/macedonia/

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