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Sommer der Migrationen – Teil 3

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Wenn es aus Serbien im Sommer der Migrationen ein Gutes gab, so war es die Tatsache, dass schlechte Nachrichten ausblieben. Die serbische Regierung wähnte sich bereits im Juli vor der Auf­gabe, eine halbe Million Migrantinnen in Lagern aufnehmen zu müssen und meinte, auch das wäre zu schaffen. Bei all diesem Merkel-konformen Optimismus stand im Hintergrund allerdings stets die bange Frage, wie beständig dieser Optimismus sein würde. Aleksandar Vučić, Ministerpräsi­dent aus der Serbischen Fortschrittspartei, war früher ein extremer Nationalist, der sich nach einer 180 Grad Wende zu allen Projekten der EU bekannt hat (mit Ausnahme des Russland-Embargos). Serbien hängt am Tropf der westlichen Kredite.

In der serbischen Bevölkerung ist aufgrund der eigenen Erfahrungen nach dem Jugoslawienkrieg eine gewisse Empathie mit den Migrantinnen abrufbar. Aber es gibt gleichzeitig einen latenten anti-muslimischen Rassismus, den die Regierung, die eine völlige Kontrolle über die Medien aus­übt, nicht minder leicht abrufen könnte. Im Falle, dass sich der Mainstream in der EU ändern und die Attacken auf Merkels Politik Erfolg haben würden, war eine Kehrtwende der serbischen Politik beständig zu befürchten. Dass die Regierung Vučić dieser Versuchung bislang widerstanden hat, ist unter den glücklichen Fügungen der Ereignisse, die hier beschrieben werden, vielleicht die wich­tigste.

Indes war die Zahl der Menschen, die in Serbien Aufenthalt nehmen wollten, naturgemäß niedrig. Die Balkanstaaten waren ja selbst Länder der Emigration, und in Belgrad vereinigte sich die Migra­tionsbewegung der Westbalkanroute mit den Migrationen der Roma und Albanerinnen aus dem Balkan.1 Im Juni allerdings übertraf die Zahl der Migrantinnen auf der Westbalkanroute die Zahl der Balkanemigrantinnen bei weitem, und Ende Juli verbreitete Frontex Alarmstimmung: 50.000 Migrantinnen hatten allein im Juli die griechischen Grenzen passiert, so viele wie im ganzen Jahr 2014.2 Ein Bericht der WOZ aus Belgrad kennzeichnet die Situation Ende August, nach der Wieder­eröffnung der mazedonischen Grenze:

Anders als Mazedonien hat Serbien schnell auf die Notlage reagiert. Bereits am Sonntag wurde ein neues Aufnahmelager für rund 4.000 Personen errichtet. Bemerkenswert ist, wie gelassen die serbische Bevölkerung auf den Flüchtlingsansturm reagiert. In Belgrad etwa halten sich seit Juni täglich gut tausend Flüchtlinge in einem Park mitten in der Stadt auf. Sie liegen auf Decken oder Pappkartons, schlafen oder dösen, bis es mit dem Bus oder Zug weiter an die ungarische Grenze geht. Am Anfang wurde der wilde Rastplatz einfach geduldet. Doch zunehmend vermüllte die Ge­gend, und es stank, weil die Flüchtlinge keinen Ort hatten, um ihre Notdurft zu verrichten. Daraufhin begannen sich spontane Bürgerinitiativen um die Menschen zu kümmern. Freiwillige verteilten Kleider, Wasser und Hygieneartikel. Und schließlich schaltete sich auch die Politik ein.

Versprechen im Park

Der Staat werde den MigrantInnen helfen, kündigte Premier Aleksandar Vucic an, als er die Flüchtlinge im Park persönlich aufsuchte. Sie seien willkommen in Serbien. Er werde sich an kei­ner Kampagne beteiligen, die gegen Flüchtlinge gerichtet sei. Schließlich hätten SerbInnen vor zwanzig Jahren ähnliches Leid erlebt …
Aufgrund dieser jüngeren Geschichte ist es kein Zufall, dass Serbien die steigenden Flüchtlings­zahlen vor allem als humanitäre Herausforderung betrachtet und nicht in erster Linie als Pro­blem der Grenzsicherung. Während Ungarn und Bulgarien Zäune bauen, stellt Belgrad mobile Toiletten und einen Tankwagen mit Frischwasser bereit. Kürzlich wurde zudem ein Informati­onszentrum für Asylsuchende eingerichtet: Flüchtlinge können dort juristische Hilfe erhalten, es gibt Computer und kostenfreies WLAN.3

Der Grenzort Presevo war für die Migrantinnen die erste Anlaufstelle in Serbien. Hier hatte UNHCR ein Auffangbüro errichtet und die Armee hatte Zelte aufgestellt – wenn auch niemals ge­nug. Hunderte übernachteten täglich auf freiem Feld oder auf der Straße. Sie standen in brütender Hitze und später in Regen und Matsch an, um sich ein kleines Papier ausstellen zu lassen, welches zur Durchreise binnen 72 Stunden berechtigte. Die erste Generation der Migrantinnen musste sich von Presevo aus entlang der Bahnschienen die 400 km nach Norden durchschlagen4; ab August konnten die Migrantinnen in Doppeldeckerbussen nach Norden weiterfahren – mit einem Zwi­schenstopp in Belgrad oder direkt an die ungarische Grenze.

Wie sich die Situation in Presevo Anfang August darstellte, beschreibt dieser Bericht von Hauke Heuer im Magazin Sieh die Welt:

Flüchtlings-Kolonnen

Gemeinsam mit Mitarbeitern der serbischen NGO „Centar E8“ will ich die Situation begutachten. Schon auf der Schnellstraße sehen wir die ersten Kolonnen. Große Gruppen marschieren von Preševo aus nach Nordserbien. Sie tragen kaum Gepäck – nur ihre Schlafsäcke am Gürtel. Die Frage nach dem Weg erübrigt sich. Ein junger Mann schwenkt bereits die Handfläche, wie die Kelle eines Verkehrspolizisten, als wir die Scheibe herunterlassen und zeigt unmissverständlich in Richtung Zentrum, in Richtung Polizeistation. Wir parken den Wagen unweit der Moschee. Als wir aussteigen, ruft der Muezzin auffallend leiernd zum Gebet. „Das kommt nur vom Band. Mehr kann man sich hier nicht leisten“, sagt eine meine Begleiterinnen.

In den Straßen rund um die Polizeistation bestätigen sich die Berichte meiner Kollegin. Hunderte Männer, Frauen und Kinder – vorwiegend aus dem Mittleren Osten sowie Nord- und Zentral­afrika – hocken auf den Bordsteinen oder direkt auf der Straße und warten auf ihre Dokumente für die Weiterreise in Richtung Ungarn.

Überall liegt Müll. Leere Plastikflaschen und Verpackungen füllen den Straßengraben. Die Mas­sen drängen sich dazwischen unter den Bäumen, um Schutz im Schatten zu finden. Einige hängen mit allen vier Gliedmaßen am Zaun der Polizeistation und versuchen mit der Handvoll Polizisten zu verhandeln, die das Gelände vor der Stürmung sichern. Die Beamten reagieren nicht, sie tra­gen Mundschutz, wie man ihn aus Krankenhäusern kennt, und Gummihandschuhe.

Die Nerven liegen blank

Wir treten mit halb gehobenen Händen durch das Tor und suchen das Gespräch mit dem rang­höchsten Uniformträger. Der zeigt sofort mit dem Finger entgegen unserer Laufrichtung. Wir diskutieren, fragen nach konkreten Zahlen. „Bis vor ein paar Wochen sind hier 20 bis 30 Perso­nen am Tag aufgetaucht. Heute registrieren wir bis zu 600 Menschen täglich“, nuschelt der Poli­zist durch seinen Mundschutz und schiebt uns bestimmt Richtung Ausgang. „Wie ist die Situa­tion?“, fragt meine serbische Begleiterin. „Wir sind zu wenige und vollkommen überfordert. Das sehen sie doch!“, antwortet der Beamte denkbar patzig und schließt mit einem lauten Knall hinter uns das Tor. Die Nerven liegen blank.

Wieder auf der Straße wird die Überforderung sichtbar – es geht einfach nichts voran. Lange Schlangen bilden sich vor einem provisorischen Büro gegenüber der Polizeistation. Nummern werden mit schwarzer Tinte auf die Handrücken der Wartenden geschrieben – die Eintrittskarte für den umzäunten Hof der Polizei. Hier gibt es die eigentlichen Dokumente. Teilweise müssen die Flüchtlinge bis zu drei Tage warten bis sie das entsprechende Papier in der Hand halten.

Währenddessen brennt die heiße Balkansonne und die zwei einzigen großen blauen Wasserkanis­ter sind leer. Einmal am Tag kommen die Helfer des Serbischen Roten Kreuzes und verteilen Le­bensmittel. Nur ungefähr ein Drittel der Menschen erhält eine Ration. Der Rest wird auf den Fol­getag vertröstet. „Wir haben nichts! Unser Essen geben wir den Kindern und den Alten“, sagt Muhammed aus Damaskus, der mit seiner siebenköpfigen Familie auf dem Weg nach Deutsch­land ist, um dem syrischen Bürgerkrieg zu entkommen.

Dass die serbischen Kräfte nicht ausreichten, die im Juli anschwellende Zahl der Migrantinnen menschenwürdig zu versorgen, ist einem Land, das noch immer vom Krieg geschwächt ist und des­sen Militär sicherlich mehr Erfahrung in der Organisation von Massakern hat als in der Versorgung von Flüchtigen, kaum zu verübeln. Als die deutschen Grenzbeamten ihr Klagelied der Überforde­rung anstimmten, hatte die serbische Polizei, über jeden Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns erhaben, bereits viele Wochen lang hunderttausende Papiere gestempelt, die nur einen Tag später achtlos weggeworfen wurden.

Wenn es an den Verhältnissen in Serbien Kritik zu üben gibt, dann betrifft diese Kritik in erster Li­nie das Personal von UNHCR und den NGOs. Wiederholt haben Aktivistinnen auf der Route beob­achtet, dass die Büros des UNHCR dicht machten, lange bevor die letzten Busse ankamen, dass die Lager des UNHCR mit Planen und Matratzen prall gefüllt waren, die aber nicht verteilt wurden, so in Presevo und zuletzt in Idomeni, wo sich Dolmetscher des UNHCR an der Sprachselektion betei­ligten. Zudem befanden sich die Einrichtungen von UNHCR und NGOs regelmäßig hinter den Poli­zeiabsperrungen, wo die Migrantinnen das Schlimmste bereits hinter sich hatten. Das deckt sich mit Berichten von der Insel Lesbos, wo UNHCR sich zwar an der Registrierung der Migrantinnen beteiligte, aber nicht einen einigen Menschen, nicht ein einziges Kind aus dem Wasser gezogen hat. Dass die Rationen des Roten Kreuzes an vielen Tagen noch unzureichender waren als die Rationen der Welthungerhilfe in den libanesischen Lagern, ist mit Überforderung allein nicht zu erklären.

Die folgenden Bilder wurden im Oktober von drei Aktivistinnen aus Osnabrück, Bremen und Kiel aufgenommen und zeigen die Schlange von Wartenden vor der Stempelstelle in Presevo, den Pavil­lon des UNHCR, Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes und Polizisten auf der ruhigen Seite der Ab­sperrung und die Übernachtungsmöglichkeiten der Migrantinnen im Regen und Matsch von Prese­vo:5

Abb.06

Schlange von Wartenden vor der Stempelstelle in Presevo

 

Abb.07

Pavil­lon des UNHCR

 

Abb.08

Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes und Polizisten auf der ruhigen Seite der Ab­sperrung

 

Abb.09

Übernachtungsmöglichkeiten der Migrantinnen im Regen und Matsch von Prese­vo

Die Aktivistinnen berichten über ihre ersten Eindrücke in Presevo:

Die Stadt Presevo liegt im Süden Serbiens direkt an der mazedonischen Grenze.

Es kommen jeden Tag bis zu 10.000 Menschen mit dem Zug im mazedonischen Tobanovce an, laufen von dort einen schlammigen, nassen Weg ca. zwei Kilometer über die Grenze ins serbische Miratovac, um dann von dort mit dem Bus nach Presevo gefahren zu werden. Fast alle kommen mit nassen Füßen in Presevo an. Hier wird noch immer versucht, trotz einiger unbestätigter Fest­nahmen der Mafiataxifahrer, die Ankommenden mit überteuerten Taxifahrten oder SIM-Karten abzuzocken. Es gab mittlerweile einen Infopoint und eine Küche, an denen in verschiedenen Spra­chen Warnungen über die Taxifahrer_innen gegeben wird und auch über die Prozedur im Re­gistrierungscamp. Hier müssen sie sich registrieren lassen, um sich legal für 72 Stunden in Serbien aufhalten und mit Bussen bis nach Sid an der kroatischen Grenze durchreisen zu dürfen. Im Camp arbeitet neben dem UNHCR und dem Roten Kreuz auch noch die Organisation SOS Re­mar, die allerdings nachts ihre Arbeit einstellt.

Direkt nach unserer Ankunft haben wir mit weiteren selbstorganisierten Freiwilligen begonnen, die Hunderten von Menschen in der Schlange vor dem Registrierungszentrum mit Tee, Essen und Decken zu versorgen. Diese mussten oft viele Stunden bis 2 Tage lang, eingepfercht in Gittern und bewacht von teilweise aggressiver serbischer Polizei, in der Reihe warten, ohne Versorgung durch UNHCR etc. Wenn sie die Reihe verließen, z.B. weil sie aufs Klo mussten, mussten sie sich wieder hinten anstellen. Wir haben in unzähligen Einzelgesprächen und Diskussionen mit Poli­zist_innen versucht, alte und kranke Menschen, Menschen mit Behinderung, Familien mit kleinen Kindern und Babies aus der Reihe herauszuholen und als erste in das Camp zur Registrierung zu bringen. Die Polizist_innen entschieden dabei völlig willkürlich. Die Registrierung verlief un­glaublich langsam, war nachts zeitweise sogar geschlossen, unglaublich zumal zu jeder Tageszeit Menschen ankamen und in der Nacht die Not am größten war. Es war ein unglaubliches Gedrän­ge, z.T. kurz vor einer Massenpanik. Die Polizei prügelte teilweise mit Schlagstöcken auf die war­tenden Menschen ein.6

Über ihre Erfahrungen mit den Hilfsorganisationen in Presevo berichten die Aktivistinnen, die in den Regennächten des Oktober ihr Möglichstes taten, um die Migrantinnen zu unterstützen, bevor sich die Situation durch die Ankunft weiterer Volunteers etwas entspannte:

Die Menschen saßen und standen stundenlang uninformiert zwischen den vermüllten umgitter­ten Zugängen zum Camp. Die Trink- und Essensversorgung sowie auch die Verteilung von Kla­motten und Decken lagen fast komplett bei uns. Es ist der kranke Wahnsinn! Wir finanzierten und versorgten Tag und Nacht mit einer selbstorganisierten Küchencrew und Spendengeldern tausende Menschen, arbeiteten die Nächte durch, haben kaum geschlafen und sind mit den vielen Menschen und den Mengen an Essen manchmal nicht hinterher gekommen. Die Menschen sind meistens super hungrig und ausgekühlt aus dem Camp gekommen und wir fragen uns, was die ganzen NGOs dort mit den Leuten gemacht haben! Wenn überhaupt haben Frauen und Kinder Essen bekommen, Männer kamen super hungrig aus dem Camp. Die Situation ist, wie an den an­deren Grenzen und Camps auch, unglaublich entwürdigend und menschenverachtend. Die Leute werden wie Tiere von einem Gitterblock in den nächsten getrieben und dürfen das Gitter nur in seltensten Ausnahmen zum Pinkeln verlassen. […]

UNHCR und Rotes Kreuz ließen sich nach wie vor kaum blicken, es gab nachts, wenn es am Nö­tigsten gebraucht wurde, immer noch nur ein bis zwei Ärzt_innen. Für die wartenden Menschen gab es keine Sitzgelegenheiten und in den kalten Morgenstunden kollabierten die Menschen rei­henweise vor Kälte, Erschöpfung und Verzweiflung, wegen Krankheiten, Alter oder Schwanger­schaft. Es war nachts so schwer auszuhalten! In den teilweise sehr kalten Nächten haben wir die Menschen soweit es ging mit Decken und heißem Tee versorgt, wobei wir für jede einzelne Decke beim UNHCR im Camp fragen mussten, der sehr sparsam damit war und zeitweise auch gar nicht anzutreffen war. Der UNHCR bunkert die Decken und traute sich tagsüber nur ohne Weste aus dem Camp, „weil sie Angst haben, von Anwohner_innen verprügelt zu werden“.


[1] Im Winterhalbjahr 2014/15 stellten 100.000 Migrantinnen allein aus dem Kosovo einen Asylantrag in der BRD. In den Monaten Januar bis März wurden in der BRD 42.000 Migrantinnen aus den Balkanstaaten ge­zählt, ein Drittel von ihnen Roma. Der Anteil der Roma an den Emigrantinnen aus Serbien selbst betrug 90%, http://ffm-online.org/2015/03/10/exodus-aus-dem-kosovo-massenstreik-mit-fuessen/, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-07/asylbewerber-roma-balkan-fluechtlinge-diskriminierung
[2] http://frontex.europa.eu/news/record-number-of-migrants-enter-greece-in-july-dMt39y
[3] https://www.woz.ch/1535/balkan/erinnerung-an-die-eigene-fluchtgeschichte
[4] Zur Situation der Migrantinnen in Serbien im Mai hat NBC eine Bildserie veröffentlicht: http://www.nbcnews.com/storyline/europes-border-crisis/journey-freedom-migrants-seek-asylum-serbia-n377946
[5] http://openborder.noblogs.org/post/2015/11/20/prasentation/
[6] http://openborder.noblogs.org/files/2015/10/Grenzbericht-2.pdf

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